Lucas Santtanas neuntes, am 13.01.2023 erscheinendes Soloalbum O Paraíso ist ein kämpferisches Werk aus trügerisch sanften brasilianischen Klängen, Jazz und Electronica. Es ist ein Appell an die Menschheit zum Umdenken: das Paradies existiert im Hier und Jetzt, auch wenn es verwundet sein mag. Wir alle tragen eine Mitverantwortung für seine sich beständig verändernde Gestalt und sind verantwortlich für sein Überleben.
Das Brasilienbild im Rest der Welt ist auch heute von Phantasien über ein mysteriöses, paradiesisches Land wie in der Beschreibung des deutschen Abenteurers Hans Staden aus dem 16. Jahrhundert oder den Bildern des französischen Malers Félix Émile Taunay aus dem 19. Jahrhundert geprägt – eine Vision von Eden, die brasilianische Musiker*innen später in ihr Gitarrenspiel einfließen lassen sollten. Lucas Santtana ließ sich davon inspirieren und verstand, dass das Gefühl der natürlichen Schönheit universell ist.
„Wie im Paradies“ fühlen wir uns jedes Mal, wenn wir im Urlaub an einen wunderschönen, inmitten der Natur gelegenen Ort reisen und sehen den Planet Erde intuitiv als Ort der Wunder. Auch wenn diese Prämisse durch unser Wirtschaftsmodell der Ausbeutung natürlicher Ressourcen tiefe Dellen erhalten hat, ist sie in ihrem Kern richtig. Lucas Santtanas neues Album bewegt sich um den Gedanken herum, dass das Paradies schon da ist („O Paraiso jà é acqui“) und wir daher den Sinkflug in die Hölle mit allen Kräften aufhalten müssen.
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Entstanden ist O Paraíso während der Pandemie. Dieser Einschnitt in die Menschheitsgeschichte konnte nicht spurlos an Lucas Santtana vorbeigehen. Er ist ein Sohn Bahias, der Zentrale des afro-brasilianischen Synkretismus mit seinen Göttern und Göttinnen, die das Wasser, den Donner, den Wald und das Meer kontrollieren. „Es war wie eine Botschaft des Tierreichs an uns, angesichts seiner sich schon lange ankündigenden Erstickungsgefahr. Die Fluten, Feuer, Dürren, Tsunamis, verspäteten Monsunregen, schmelzenden Gletscher und Ölteppiche sind alle Alarmglocken, die wir nicht hören wollen. Wie viele SOS-Signale müssen gesendet werden, bevor wir unsere Augen öffnen“ fragt Lucas in einem filigranen Stück namens „A Transmissão“.
Schon immer ist Lucas Santtana ernste Themen mit oft fröhlich klingender Eleganz und Leichtigkeit angegangen, so auch auf O Paraíso. Ein Beispiel ist das auf Spanisch gesungene Stück „Sobre La Memoria“. Die Lektüre von David Wallace-Wells‘ Essay Die Unbewohnbare Erde mit seiner Beschreibung der Hölle bei einem Temperaturanstieg um 4°C, hätte Santtana verzweifeln lassen können; stattdessen verwandelt er die Dramatik der Lage in Hoffnung und findet in den Metamorphosen und anderen Schriften des italienischen Philosophen Emanuele Coccia ein Gegengewicht: „Jedes Wesen ist eine Metamorphose, von der Schwangerschaft bis zu unserer Ernährung. Alles Leben ist metamorphisch, es durchläuft Identitäten und Welten ohne jemals der Passivität zu erliegen“. Ein weiteres Beispiel ist das Stück „What’s Life“, in dem er Texte der amerikanischen Mikrobiologin Lynn Margulis vertont. Der Text mündet in die an Kraftwerk erinnernde Textzeile „We are the nature“.
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Santtana zeigt die Quellen unserer Plagen auf, um sie besser bekämpfen zu können. Im Text der ersten Single „Vamos ficar na terra“, die nach seiner Lektüre eines Artikels über Elon Musks Marspläne entstand, erzählt er von rasender Gier und Geiz, deren traute Vereinigung mit „Mr Consumption“ immer im Tod enden. „Ich würde Elon Musik sagen, dass es dumm ist zum Mars fliegen zu wollen, wenn wir die gigantische Möglichkeit haben, auf dem einzigen bewohnbaren Planeten des Sonnensystems zu leben“.
Thema des gemeinsam mit der Band Les Petits Chanteurs from Asnières eingespielten französischsprachigen Songs „Biosphere“ ist der Wahnsinn und die Lüsternheit der Agrarindustriellen und der Hersteller von Spitzentechnologien, die mit ihren Lügen den freien Fall noch weiter voran treiben statt ihn abzubremsen. Wir befinden uns in einer Zeit der Entscheidungen: weiterleben oder sterben. Wir sollten den Schamanen zuhören, den indigenen Völkern, den wahrlich Zivilisierten singt Santtana: „Man can never be master of a nature that’s outside of him”.
In dem humorvollen Song „Muita pose, pouca yoga“ mit Flavia Coelhos sonnendurchstrahlter Mitwirkung, greift Lucas kurze Sätze basierend auf bekannten politischen oder sozialen Slogans auf, die der Filmemacher Daniel Lisboa in ganz Salvador de Bahia an Wände postet, wie eben auch „Viel Pose, wenig Yoga“ über Yoga-Posts bei Instagram.
Neben acht Eigenkompositionen gibt es zwei Coverversionen auf dem Album. Jorge Bens „Errare Humanum Est“ ist eine auch von der jungen Garde der brasilianischen Singer-Songwriter wie Seu Jorge oder Rodrigo Amarante bekannte Meditation über unsere kosmischen Ursprünge aus dem Jahr 1974. Die zweite Coverversion ist Paul McCartneys „The Fool On the Hill” aus dem Jahr 1967, hier im Duett mit Flore Benguigui von der Band L’Imperatrice. Als das Stück geschrieben wurde, beschäftigten sich die Beatles mit der Kraft der Schamanen, die das dritte Auge besitzen. Flore singt „wie ein Vogel“ über einem Pagodão-Rhythmus aus Salvador de Bahia.
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Seine seidenweiche Stimme und sein zartes Gitarrenspiel hat Santtana schon in der Vergangenheit bei Alben wie O Deus Que Dévasta Mas Tam Ben Cura (2012), Sobre Noites e Dias (2014) oder Modo Avião (2017) mit elektronischem Sampling gemischt. 2019 kehrte er mit seinem Album O Ceu E Velho Ha Muito Tempo zur einfachen Gitarre-Stimme-Kombination zurück. Auf dem neuen Album verbinden sich all diese Ansätze und Santtana ändert seine existenzielle Fragestellung von „Who Am I“ zu „Where Am I“.
Das Album wurde in Paris „mit Musiker*innen, die gerade vor Ort waren“ eingespielt. Mit von der Partie sind Fred Soulard (Klavier, Keyboards, Produktion), der brasilianische Perkussionist Zé Luis Nascimento, der französische Cellist Vincent Segal, der Saxophonist Laurent Dardainne und die Bläsersektion bestehend aus Remi Scuito und Sylvain Bardiau. Alle sind Meister der musikalischen Subtilität, kleiner impressionistischer Tupfer mit Schlagzeug, Marimba, Blasinstrumenten, Synthesizern und Streichern.
O Paraíso war eine Gelegenheit, „unsere kulturellen Referenzen auszutauschen“ so Santtana, „die Brasilianer hatten nie das Bedürfnis, eine hegemoniale Rolle zu spielen, da Brasilien immer ein Land der Vermittlung gewesen ist. Mein Land hat immer eine Möglichkeit des Zusammenlebens angeboten. Aber als 2018 die Ultrarechten an die Macht kamen, wurde der Konflikt zu einer Regierungs-Methode. Der Kampf um den Schutz Amazoniens ist von entscheidender Bedeutung und Bedingung für das Überleben aller, die die blaue Biosphäre namens Erde bewohnen“.
Hintergrund:
Lucas Santtana ist 1970 in Salvador de Bahia geboren. Sein Vater ist der Produzent Roberto Sant’ana und sein Onkel der bekannte Tropicália-Musiker Tom Zé. Erste Erfahrungen als Musiker sammelte er als Querflötist bei Orchestern im brasilianischen Bundesstaat Bahia; 1993 folgte eine erste Aufnahme als Musiker auf Caetano Velosos und Gilberto Gils Album Tropicália 2; mit Letzterem arbeitete er als Flötist in den 1990er Jahren weiter zusammen.
Während dieser Zeit lernte Santtana in den Auftrittspausen innerhalb langer Tourneen Gitarre zu spielen und seine eigenen Songs zu schreiben, die zuerst in gemeinsame Projekte mit Arto Lindsay, Marisa Monte und Daniela Mercury mündeten, bevor er im Jahr 2000 sein erstes Soloalbum Eletro Ben Dodô veröffentlichte. Es war der Startschuss für einen Albumzyklus, der sich unterschiedlichen Sounds und Texturen annahm. Das Debütalbum war perkussiv, der Nachfolger Parada de Lucas (2003) elektronisch und beeinflusst vom gerade aufblühenden Baile-Funk, 3 Sessions In A Greenhouse (2007) stark von Dub inspiriert und Sem Nostalgia (2011) eine innovative, von Gitarre und Vocals bestimmte Antwort auf die Bossa Nova.
2012 kam mit Who Devastates Also Cures der Beginn eines neuen Zyklus, der sich mit dem post-Tropicália-Album Sobre Noites E Dias 2014 fortsetzte. Das siebte Album Modo Avião, das sich um die menschliche Identität in Zeiten des Kapitalismus, Konsumismus und der digitalen 24-Stunden-Vernetztheit beschäftigte, erschien 2017, wie auch schon der Vorgänger und das 2019 erschienene Album beim französischen Label Nø Førmat!.
Weitere Informationen:
https://www.facebook.com/lucas.santtana.official/
LUCAS SANTTANA
Das neue Album: O Paraíso
VÖ: 13.01.2023
Label: Nø Førmat!
Formate: CD, LP, digital
Vertrieb: IDOL / Indigo
UPC CD: 3700551784806
UPC LP: 3700551784813
Katalognummer: NOF 56
Labelcode: 35386
Siehe auch:
Lucas Santtana – O céu é velho há muito tempo: https://www.ub-comm.de/?p=5214
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